Seyran Ateş: Die Kritik der AfD ist berechtigt

Seyran Ateş, 54, wuchs in Berlin-Wedding auf. Aufgrund ihrer Warnungen vor naiver Multikulti-Politik sowie ihrer Kritik am Kopftuch in repräsentativen Ämtern oder als religiöse Pflicht ist die Anwältin ständigen Drohungen und Angriffen ausgesetzt. Im Sommer 2017 gründete Ateş die Ibn Rushd-Goethe-Moschee, in der sie ihre Idee eines reformierten Islam praktiziert. Seit elf Jahren steht sie unter Personenschutz.

Inwiefern gehört der Islam für dich zu Deutschland?

Dieser Satz ist so verbrannt wie „Leitkultur“ oder „Integration“, und es stellt sich mir immer erst die Frage, wer den Satz mit welcher Intention ausspricht. Geht es um Millionen muslimischer Gastarbeiter, Flüchtlinge oder Migranten mit deutscher Staatsangehörigkeit? Reden wir von politischer Einflussnahme, von gesellschaftlicher Aktivität oder Körperschaften des öffentlichen Rechts? Oder wird eine spezielle Ausrichtung der Religion gemeint?

Nehmen wir beispielsweise gewaltverherrlichende Salafisten: Die müssen strafrechtlich verfolgt werden. Andererseits gehören Muslime, die ihre Religion friedlich und öffentlich sichtbar ausüben, natürlich zu Deutschland. Wichtig ist, in dieser Frage keinen Rassismus zuzulassen. Nur dann kann ein Dialog stattfinden, und auch innermuslimisch debattiert werden, etwa über die Vereinbarung von Islam und Menschenrechten. Es wäre falsch, weiterhin leichtgläubig mit diesem Thema umzugehen – auch deshalb sollte man sich von diesem Schlagwort freimachen, das jede Diskussion kaputt macht.

Man sollte meinen, dass ein moderater Islam politisch und gesellschaftlich gestärkt wird – und doch begegnet man deiner Ibn Rushd-Goethe-Moschee mit Misstrauen. Wie erklärst du dir das?

Die religiösen Ausprägungen unterscheiden sich nicht nur in der Islamischen Welt stark, sondern auch im Westen: In Nordamerika ist der Islam anders als der „Euro-Islam“, wie Bassam Tibi ihn nannte. In Serbien wiederum kaufen Muslime auf dem Basar ihr Schweinefleisch und trinken Alkohol. Diese verschiedenen Realitäten spiegeln sich auch in Deutschland wider. Hier sind liberale Muslime einerseits froh über unsere Moschee, andererseits sind sie Diffamierungen durch Fundamentalisten ausgesetzt, die keine Religionsfreiheit akzeptieren. Dass die unsere Moschee nicht mögen, liegt in der Natur der Sache.

Aber weshalb will der saudische Kronprinz den Islam liberalisieren? Weil die Jungen die Nase voll haben von einer unterdrückenden Religion, die ihnen die Freiheit nimmt zu leben und zu lieben, wie und wen sie wollen. Reformen setzen sich überall durch. Millionen leben ja bereits einen liberalen Islam, auch wenn Gewalt und Macht dies zu unterdrücken versucht, selbst hier in Berlin. Denn auch die deutsche Politik will es sich mit den von ihr hofierten Konservativen nicht verderben und macht sich dadurch erpressbar. Man könnte uns als Teilnehmer der Islamkonferenz einladen, oder mit uns in Beiräten an den Instituten der theologischen Fakultäten diskutieren, doch werden immer neue Argumente gefunden, weshalb man uns nicht mit am Tisch haben will. Aber man wird irgendwann nicht mehr umhin kommen, auch uns Liberale zu unterstützen, nicht zuletzt finanziell.

Deine Mosche steht ja nicht nur allen islamischen Konfessionen offen, sondern auch Gläubigen jeden Geschlechts und jeder Sexualität. Gibt der Koran überhaupt diese Freiheit?

Frauen und Männer beten seit 1400 Jahren in Mekka gemeinsam Seite an Seite. In keiner Quelle, weder dem Koran noch den Hadithen, steht die Trennung der Geschlechter festgeschrieben – insofern sind wir koranfester als diejenigen, die das verbieten wollen. Unter dem Dach des Islam sind alle willkommen, Personen unterschiedlichster legaler Identitäten wie auch LGBTIQ*-Personen, die sich als muslimisch identifizieren. Denn Gott hat alles erschaffen, er hält seine schützende und barmherzige Hand voller Liebe über jeden, und sei es eine Regenbogenfamilie – denn am Ende geht es darum, die Familie zu schützen, die Liebe zu schützen, so wie Gott es will.

Du warst Augenzeugin des Einzugs der AfD in den Bundestag, deren Erfolg nicht zuletzt mit der Behauptung einer drohenden Islamisierung zu erklären ist. Teilst du deren Befürchtung?

Der Ruf Erdoğans an die Türken in Deutschland, nicht drei sondern fünf Kinder zu zeugen, zielt doch in diese Richtung. Auch Auslandsfinanzierungen radikaler Islamisten aus Katar, Saudi-Arabien oder der Türkei sind längst bekannt, und die Zahl der Gefährder steigt ständig an. Dabei meine ich nicht nur Attentate, sondern die Strömung, die gegen das selbstbestimmte Leben des Westens arbeitet. Kleine Kinder tragen Kopftuch, Teenager befreunden sich nicht mit Ungläubigen, Mädchen dürfen Jungs nicht berühren, Jungs verwehren ihren Lehrerinnen den Handschlag. Religiöse Auseinandersetzungen gehen soweit, dass junge Muslime sich untereinander mobben – eine selbstverständliche Folge ist dann etwa die Verbreitung von Homophobie. Auch, wenn es keinen deutschen IS geben wird, gilt: Wehret den Anfängen!

Diese Entwicklung kritisiert die AfD zurecht, aber ihre Schlussfolgerung ist falsch, indem rassistisch und islamophob argumentiert wird. Dabei teilen viele Muslime die Angst vor einer Islamisierung. Es wäre wünschenswert, wenn alle Parteien politische Lösungen anbieten würden statt immer nur die AfD zu kritisieren, denn Zuwanderung und Flüchtlinge sind Themen, denen man sich bislang verschließt. Das hat doch den europaweiten Rechtsruck erst ausgelöst: Der Erfolg von Orbán, Le Pen, Strache, Kaczyński und auch der Brexit sind ja Reaktionen auf Zuwanderung, auf die nirgends in Europa wirklich reagiert wurde. Deshalb habe ich mit Freunden die europäische Bürgerinitiative Stop Extremism gegründet: Wir sammeln Unterschriften, damit sich die EU einerseits mit Richtlinien zur Bekämpfung von Extremismus befasst, andererseits aber gemeinschaftlich mit der europaweiten Zuwanderung beschäftigt.

Und was braucht speziell Deutschland für die Zukunft?

Am dringendsten fehlt ein Werte- und Demokratieunterricht an deutschen Schulen. Wir müssen endlich anfangen, Kindern die Inhalte der Werte beizubringen, von denen wir die ganze Zeit reden, leider ohne ihnen die Bedeutung zu vermitteln. Die Schulbildung hat in diesem Punkt viel versäumt.

Seyran Ateş, wir freuen uns über dich sehr.

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Bilder: Dorothee Deiss

Sylvester Alone: Wenn die uns sehen, können sie nicht anders!

Rede anlässlich der Großen TfD-Revue zur Bundestagswahl, vorgetragen von Sylvester Alone im SELIG am 22. September 2017.

Viele verstehen ja nicht, was diese TfD soll, warum die überhaupt initiiert wurde, und dann noch der Name… Aber es gibt einen Grund, warum das Projekt Travestie für Deutschland heißen musste. Travestie hat nämlich eine tolle Eigenschaft, sie ist herrlich unbequem. Travestie beißt manchmal in den Augen, provoziert fast immer, hat das Potenzial, auf die Nerven zu gehen – und Travestie ist so überhaupt gar nicht darauf angewiesen, dem Betrachter zu gefallen.

Wissen viele vielleicht nicht, dass sie die Plakatmotive gar nicht geil finden müssen (können schon, aber nicht müssen). Denn hier geht es mal darum, NICHT gefallen zu müssen, anderen mal NICHT das zu zeigen, was sie sehen wollen. Sondern es geht darum, die Leute aus ihrer Komfortzone zu jagen, ihr Weltbild zu hinterfragen, das Erwartete zurück zu halten und zu überfordern.

Denn wer unterfordert, produziert nur immer mehr von dem, was schon da ist. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die politischen Parteien, die sich am verschwenderischsten mit den kulturellen Ergüssen unserer Geschichte schmücken, selbst eine Regierungsidee vertreten, in der solch eine Kultur überhaupt nicht entstehen könnte.

Weil nämlich alles Andersartige sofort weg gebissen wird. Jede Kritik ist Verleumdung. Alles Fremde ein unwillkommener Eindringling. Jeder Lebensentwurf abseits von Mutter-Vater-Kind gilt als widerwärtig oder unnatürlich. Unnatürlich ist sowieso mein Lieblingswort. Man könnte es auch umschreiben mit: „Mutti hat mir das damals verboten, also dürft ihr auch nicht, ätsch!“ All das wäre Unterforderung, eine plätschernde Bestätigung des immer gleichen. Als würde die Republik im Privatfernsehen laufen. Genau so sieht die Welt aus, in der ich nicht leben möchte.

Ich möchte nicht in einem Staat leben, der mit Lineal und Stift herum rennt und Linien zieht zwischen normal und unnormal, um die Unnormalen dann auszugrenzen. Ich möchte auch nicht in einer Gesellschaft leben, in der Stromlinie das neue Schwarz ist, und nur das erlaubt ist, was den Anderen gefällt. Ich möchte vielmehr in einer Welt leben, in der Menschen exakt so sein dürfen, wie sie sich auch wohl fühlen. Eine Welt, in der Frauen nicht permanent fickbar aussehen müssen. Eine Welt, in der Männer sich nicht angegriffen fühlen müssen, sobald ein anderer Mann sich unseriösen Fummel überstreift. Eine Welt, in der es scheißegal ist, wer wen liebt.

Darum muss das Projekt auch Travestie für Deutschland heißen: Weil Travestie ein Potpourri der Spielarten ist, die das konservative Weltbild wunderbar herausfordert. Ein rotes Tuch für die Rechtspopulisten – wenn die uns sehen, können sie nicht anders, als ihren Hass von der Leine zu lassen und ihre menschenverachtende Ideologie zu offenbaren, gut sichtbar im Internet, auf Facebook, in den Kommentarspalten.

Die Ausrede „Ich ahnte ja nicht, was das für Leute sind“, die zählt diesmal nicht.

Kamera, Schnitt: Maximilian Pilling

Bild: Steven P. Carnarius

TfD-Rede zur Bundestagswahl 2017

Es ist Zeit für Fakten.

Da gibt es welche, die wollen das Antidiskriminierungsgesetz abschaffen – und die Ehe für alle. Die wollen eine Familienpolitik, die keine Vielfalt zulässt. Für die ist Gender eine ganz eindeutige Sache. Die finden, Frauen gehören hinter den Herd – und wie Herden sollen wir folgen. In ein Deutschland ohne Farben.

Wer aber sagt dir, wer du bist – welches Geschlecht und welche Sexualität – wen du zu lieben hast? Wer hat das Recht, dich wie einen Menschen zweiter Klasse, etwas Minderwertiges zu behandeln, nur weil du keine Gesellschafts-Mainstream-Puppe bist? Niemand.

Wir waren lang genug Opfer. Wir alle – Lesben, Schwule, Bi-, Trans*- und Intersexuelle, Frauen, People of Color. Wir waren immer die Minderheit, waren ans Minder-Sein gewöhnt. Das ist, was sie uns weismachen wollen. Dass wir weniger gelten. Dass wir randständig und unwichtig sind, Tunten, die ihrem Schutz bedürfen. Stimmlose, dumme Kälber.

Dabei ist es an der Zeit zu begreifen, dass wir alle – alle Minderheiten gemeinsam – die eigentliche Mehrheit bilden. Ja, auch wir sind die Gesellschaft. Wir haben jeder eine Stimme. Und die zählt ebenso viel wie die von Holger und Jutta um die Ecke, die vielleicht ein traditionelleres Familienbild pflegen als wir.

Es ist Zeit für Fakten. Du hast morgen eine Chance, gehört zu werden. Gib deine Stimme – und sag „Ja“ zum Bunten, Freien, Anderen! Und „Nein!“ zum Rechtspopulismus, der alles im Keim ersticken will, woran wir glauben – und was wir sind. Denk dran: Wenn 5 von 100 Leuten die AfD wählen, ist sie zu 5% im Bundestag vertreten. Wenn 5 von 101 Leuten die AfD wählen, bekäme sie nur 4,95% und wäre damit nicht im Bundestag.

Jede Stimme zählt. Geh wählen! Gib dem Rechtspopulismus keine Chance.

Vorgetragen von Jacky-Oh Weinhaus im SchwuZ am 23. September 2017, dem Vorabend der Wahl zum 19. Bundestag.

Volker Beck: Deshalb lohnt sich Wählen!

Volker Beck, 56, wuchs in Baden-Württemberg auf. Nach Parteieintritt bei den Grünen bekleidete er diverse Ämter, bevor er 1994 in den Bundestag gewählt wurde. Lautstark kämpfte er 23 Jahre lang für LGBTIQ*- und Menschenrechte, für Religionsfreiheit und die Entschädigung für NS-Opfer im Parlament. Ab Herbst 2017 lehrt er Religionswissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum.

Deutschland gilt oftmals als „frei und offen“, aber wenn man sich manche Parteien ansieht, gibt es die Tendenz, etwa die Selbstbestimmung von Geschlechtern (nicht nur von Frauen) zu beschneiden und zurückzufahren. Wo rührt das her?

Das Erstarken von reaktionären Positionen ist ein Backlash, es ist wie ein Pendelausschlag als Reaktion auf unsere Erfolge. Diese Stimmen machen zwar viel von sich hören, eben weil sie radikal und menschenverachtend sind und bewusst provozieren, aber es bleiben randständige Positionen. Deshalb müssen wir diesen Menschen aus einem Gefühl des Selbstbewusstseins entgegentreten, denn entgegentreten muss man ihnen: Wir haben einen solchen Moment in unserer Geschichte schon einmal verschlafen. Wir sollten aber nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren. Wir haben viel erreicht, die Mehrheit in Deutschland steht auf der Seite von Akzeptanz und Respekt, und dann gibt es eben eine lautstarke Minderheit, die dagegen anstinkt. Davon sollte man sich aber nicht beeindrucken lassen.

Man liest ja ständig von der drohenden Islamisierung Deutschlands. Hast du das Gefühl, dass überall Minarette aus dem Boden schießen und Imame neue Religionsbewegungen gründen?

Der Islam ist präsent – und das darf er auch sein, es ist eine Religion wie jede andere. Wo sich Muslime im demokratischen Rahmen bewegen, müssen wir deren Minderheitenrechte verteidigen, und dazu gehört, dass neben Kirchtürmen auch Minarette gebaut werden dürfen. Dennoch muss man darauf achten, dass es wie fundamentalistische Christen auch Imame und Muslime gibt, die eine Gefahr für die Demokratie bedeuten. Dies muss dann ebenso kritisiert werden, wie wir früher vor die Kathedralen gezogen sind und die Bischöfe erinnern mussten, was Demokratie bedeutet, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Aber von einer Islamisierung zu fabulieren, ist völlig absurd. Unser Land ist pluralistisch, und dazu gehört der Islam. Deutschland wird jedoch nicht muslimisch werden, und Muslime sind auch froh, dass sie hier Glaubensfreiheit genießen, aber gleichzeitig ein säkulares Recht die Ordnung für alle festlegt.

Es besteht ja die reelle Möglichkeit, dass es die Alternative für Deutschland über die Fünf-Prozent-Hürde schafft. Hast du dich mit Parteikollegen unterhalten, wie sie in diesem Fall den Mitgliedern einer AfD-Bundestagsfraktion begegnen werden?

Ich denke, man sollte ihnen mit einer klaren Haltung begegnen. Ihnen widersprechen, wenn sie sich menschenverachtend artikulieren, aber sie ansonsten nicht unnötig zum Opfer machen. Die AfD lebt ja davon, dass sie sich als verfolgte Minderheit fühlt, obwohl sie alle Rechte der Demokratie selbstverständlich wahrnehmen kann, auch für den Mist, den sie vertritt: Man darf eben auch hasserfüllt sein in der Demokratie. Man sollte deshalb darauf achten, dass die parlamentarischen Rechte auch für die AfD gewahrt werden müssen. Gleichzeitig sollte von jeder Zusammenarbeit in der Sache mit dieser Partei Abstand gehalten werden – und das erwarte ich nicht nur von den Grünen, sondern auch von den anderen Parteien.

Politikverdrossene äußern häufig „Mein Kreuz bringt ja eh nichts“ und „Ich versteh das alles nicht“… Wie wäre es möglich, eine erlebbare Demokratie zu gestalten, die für die Menschen wieder verständlicher wird?

Ich denke, unsere Demokratie ist besser als ihr Ruf, und wie sehr man sich einbringt und dann auch erreicht, hängt immer von jedem selbst ab. Gerade die Diskussion um die Öffnung der Ehe ist doch ein schönes Beispiel, dass man in unserer Gesellschaft etwas verändern kann: Wir haben 1989 zu dritt die Debatte in dieser Republik angestoßen. Anfangs haben uns alle für verrückt erklärt, auch die Schwulen und Lesben, aber wir haben nicht nachgelassen, haben argumentiert und gekämpft, immer mehr Leute hinter uns vereint, dann hatten wir die Mehrheit in der Gesellschaft hinter uns, und am 30. Juni 2017 schließlich die Mehrheit des Bundestages. Man kann in einer Demokratie gestalten und verändern, man hat sich eben zu engagieren.

Letztlich hängt es auch davon ab, wer wen wählt und wie der Bundestag zusammengesetzt ist. Um die Grundrechenarten zu bemühen: Mit fünf von 100 Stimmen schafft es die AfD ins Parlament, mit fünf von 105 Stimmen schafft sie es nicht – jedes Kreuz ist bei der Wahl entscheidend. Auch sollte man sich davon verabschieden, Parteien wie Religionsgemeinschaften zu betrachten, die eine göttliche Wahrheit verkünden. Nein, Parteien sind immer pragmatische Angebote in einer konkreten Situation mit Vorschlägen für die nächsten vier Jahre. Man sollte deshalb die Partei wählen, mit der man am meisten einverstanden ist, und bei der nächsten Wahl überlegen, ob es noch die gleiche Partei ist, oder ob man sich für eine andere entscheidet, weil man plötzlich ein anderes Thema in der aktuellen Situation für wichtiger hält. Es geht also nicht um Glaubensbekenntnisse, sondern um eine Richtungsentscheidung.

Ich habe manchmal das Gefühl, Wähler haben die übertriebene Erwartungshaltung, dass sie mit Parteien 100% einer Meinung sein müssen, damit sie die wählen können. Dies ist nicht Demokratie, Parteien sind immer darauf angewiesen, dass es intern Diskussionen gibt, Programme und Beschlüsse weiterentwickelt werden. Absolute Wahrheitsansprüche wären das Ende der Demokratie. Politik dagegen ist immer der Versuch einer Annäherung an Wahrheit, an das Richtige, an das Beste, aber sie bleibt immer relativ, und bedarf stets der Korrektur. Die Demokratie weiß, dass sie zu falschen Ergebnissen führen kann – aber anders als in einer Diktatur, in der Kritiker falscher Ergebnisse verfolgt werden, kann jede demokratische Entscheidung durch eine neue demokratische Entscheidung korrigiert werden. Deshalb lohnt es sich, an Wahlen teilzunehmen.

Was ist deiner Meinung nach wichtig für die Zukunft Deutschlands?

Deutschland braucht eine klaren innenpolitischen Kurs, so dass wir unsere Freiheit nicht aufgeben, wo wir für Sicherheit sorgen. Wir brauchen auch eine stärkere Diskussion über soziale Gerechtigkeit, damit sich nicht immer größere Gruppen von der Entwicklung abgehängt fühlen, dabei würde ein sozialer Ausgleich und Umverteilung helfen. Und wir müssen uns darum kümmern, dass dieser Planet bewohnbar bleibt: Wir erleben schwere Unwetter überall auf der Welt, das Klima verändert sich dramatisch, und wenn wir nicht eingreifen und diese Entwicklung stoppen, dann wird dieser Planet für die Menschen unbewohnbar. Wir haben es in der Hand, zu gestalten und unseren Beitrag zu leisten.

Volker Beck, wir vermissen dich im Bundestag schon jetzt.

Bild: Stefan Kaminski

Kamera, Schnitt: Maximilian Pilling

DJ Tchuani: Ich bin afrodeutsch, also deutsch!

Dominik Djialeu, 31, wuchs in Niedersachsen auf, bevor es ihn vor neun Jahren in den Wedding verschlug. Seine Party BERRIES zählt zu den Favoriten der Queer Community und veränderte seit 2014 das Gesicht der Berliner Hip-Hop-Szene, indem gezielt auf Macho-Attitüde und Homo-Bashing verzichtet wird.

Obwohl Afrodeutsche nur 0,5% der Bevölkerung ausmachen, sind sie öfter als andere PoC (People of Color) alltäglichen Aggressionen ausgesetzt. Wann wurde dir bewusst, dass du aufgrund deiner Hautfarbe anders behandelt wirst?

Ohne es benennen zu können, ist mir schon sehr früh aufgefallen, dass ich von Fremden eine besondere Aufmerksamkeit bekam als andere Kinder. So richtig greifen konnte ich den Grund wahrscheinlich erst im Grundschulalter, als ich für meine Hautfarbe oder meine großen Lippen gehänselt wurde. Damals, als es auf dem Schulhof neben mir nur eine weitere schwarze Person gab, habe ich mir gewünscht, einfach nur so wie die anderen zu sein: weiß. Es gab zwar auch rassistische Arschloch-Lehrer, aber schlimmer fand ich die, die mich bevorzugt haben, nach dem Motto: Er hat es ja eh schon so schwer. Mitleid wollte ich schon damals nicht. Ich habe sehr früh meine Koffer gepackt und bin erst nach Hamburg und dann nach Berlin geflüchtet, wo ich gewissen Dingen nicht mehr ausgesetzt bin.

Wie hast du deinen Umzug nach Berlin erlebt, wo du plötzlich einer von zehntausenden Schwarzen warst?

In Berlin konnte ich mir mein eigenes Umfeld basteln – mit Freunden, die über ihren Tellerrand hinwegblicken, und mit einem Arbeitsumfeld, in dem ich mich wohlfühle. Natürlich geht das in der Großstadt viel einfacher als in der Provinz, hier kann ich Idioten, Rassisten und Nazis viel besser meiden. Außerdem bin ich nicht mehr the only black Gay in the Village: Die berühmte Bubble also, in der ich jetzt lebe. Ich habe mich allerdings nie dafür interessiert, nur noch mit Schwarzen rumzuhängen. Es ist wichtig und stärkend für mich, im Austausch mit andern PoC zu sein, aber meine Vorstellung von einer idealen Gemeinschaft ist eine, in der Herkunft, Klasse, Sexualität und Geschlecht keine Rolle spielen. Dies ist einer der Gründe, warum ich vor drei Jahren angefangen habe, Parties zu veranstalten, in denen ich genau dieses Anliegen aufgreife. BERRIES ist wahrscheinlich mein stärkster politischer Beitrag zu dieser Stadt.

Welche rassistischen Strukturen siehst du möglicherweise klarer, die weißen Deutschen gar nicht bewusst sind?

Ich habe einen starken Radar für Rassismus und Ungerechtigkeiten und schlage da schneller Alarm. Es gibt aber auch genug Alltagsrassismus, den ich gar nicht richtig wahrnehme, wahrscheinlich aus gesundem Selbstschutz. Bei Flughafenkontrollen aus der Masse gezogen zu werden oder von Polizisten auf der Straße einen doppelten Blick zu bekommen, ist fast schon zum Running Gag für mich geworden. Sauer macht mich aber Ignoranz. Zum Beispiel hinderte neulich in der U-Bahn ein Mann eine schwarze Frau daran, sich neben ihn zu setzen. Niemand reagierte darauf, alle starrten in ihre iPhones. Als ich ihn ruhig und interessiert nach seinem Problem fragte, er aber keine Argumente hatte und sich darauf fluchend umsetzte, haben mir die Umsitzenden plötzlich gut zugesprochen. Der Frau war die Situation unglaublich unangenehm und ich hab mir nur gedacht: Auf den Support von euch Ignoranten und feigen Fickern kann ich im Nachhinein auch bestens verzichten. Zivilcourage in Berlin ist absolut ausbaufähig.

Auf die Frage, wo ich herkomme, die ich bewusst einfach nur mit „Göttingen“ beantworte, folgt in den allermeisten Fällen die Frage nach meiner „tatsächlichen“ Herkunft. Selbst wenn das von Leuten kommt, die sich selbst für weltoffen halten, sagt mir das jedes Mal: Eigentlich gehörst du nicht hier her, eigentlich ist das nicht dein Land. Ich bin hier aber verdammt nochmal geboren, schwarze Kinder werden auch in Deutschland gezeugt. Auch wenn ich mit der kamerunischen Kultur meines Vaters sympathisiere und diesen Teil in mir sehr wertschätze, bin ich am Ende afrodeutsch. Also deutsch.

Mit steigender Sichtbarkeit äußert sich Rassismus immer unverblümter, auch in der LGBTIQ*-Blase: Welche Art von Ausgrenzung bzw. Begünstigung begegnet dir in der Queer Community?

Grindr und GayRomeo sind voll von Statements wie „Schwarze und Südländer bevorzugt“ – bei solchen und ähnlichen Äußerungen wächst mein riesengroßer Schwanz direkt nach innen. Meine Hautfarbe sollte mich nicht für Sex qualifizieren, was leider auch ein Phänomen in der linken Szene ist: Da gibt es dann die weißen Deutschen, die nur Ausländer daten, um ihrem vermeintlich langweiligen Deutschsein besser zu entkommen. Am Ende ist dies auch einfach nur verdammt rassistisch.

Als wir im SchwuZ vor der TASTY-Party, die ich mitveranstalte, verkündet haben, dass sich unser Event auch an Geflüchtete richtet, hat das bei einigen für blankes Entsetzen gesorgt: Wie könnten wir nur Leute einladen, die kriminell, homophob und frauenfeindlich seien?! Die Menschen, die so denken, können genauso gern zuhause bleiben wie diejenigen, die nur zur TASTY kommen, weil dort so viele „geile Araber“ rumlaufen.

AfD-Sternchen Achille Demagbo, seit 14 Jahren im Land, hält Deutsche nicht für fremdenfeindlich. Du kennst das Landleben, du kennst Berlin: Wie rassistisch ist Deutschland 2017?

Demagbo scheint ein verblendeter Clown zu sein, genauso wie der Rest seiner Possie, nur bei ihm erschüttert es mich umso mehr. Verkappte Nazis gibt es eben überall, da sind Hautfarbe und Region egal. Die gefährlichsten sind halt die, die nicht direkt als solche erkennbar sind.

Auf dem Land findet man Fremdenfeindlichkeit geballter und offener als in der Stadt, was möglicherweise mit Frust oder Angst vor dem Unbekannten zu tun hat. In der Großstadt kann man sich viel leichter abschotten und eine eigene kleine schöne Welt bauen, was jedoch auch gefährlich ist, weil das nichts an der Tatsache ändert, dass Rassismus auch in Berlin zum Alltag eines jeden gehört, der nicht „deutsch“ aussieht.

DJ Tchuani, wir lieben dich.

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Bilder: Alexia Hahn

Frau Weinhaus fragt… Christine Lüders

Im Auftrag der TfD – Travestie für Deutschland:
Teil 5 der Formatreihe „Frau Weinhaus fragt…“

Heute: Christine Lüders. Ihres Zeichens Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Sie erklärt uns einige wissenswerte Aspekte der AfD – und vor allem, was bei ihnen absolut nicht läuft.



Bild: Antidiskriminierungsstelle des Bundes

Die Freiheit führt (immer noch) das Volk

Together we stand, divided we fall.

Unsere Marianne ist keine Nationalfigur mehr, sie gehört keinem Land. Wen die Freiheit führt, der will nicht an Grenzen stoßen, der will keine Barrieren, keine Festungsgräben. Unsere Marianne, das ist Europa. Und nur ein aufgeklärtes, ein offenes Europa kann uns in die Freiheit führen. Uns – und alle die Zuflucht suchen.

Mit dem Bild Die Freiheit führt (immer noch) das Volk wollen wir ein Zeichen dafür setzen, dass wir bereit sind für den Widerstand. Wir stehen gemeinsam gegen die Angst und für die Gelassenheit, gegen den Populismus und für die Demokratie, gegen den Terror und für den Frieden. Dafür nutzen wir unsere eigenen, künstlerischen Mittel – die Travestie ist eines davon.

Ob kämpferisch, stolz, hoffnungsvoll oder sogar widerwillig – jede_r* auf diesem Bild verkörpert den Widerstand auf ganz eigene Weise. Das spiegelt sich in ihren Gesten wider, in ihren Gesichtsausdrücken. Die Gruppe um Marianne hat den Kampf um die Freiheit, um Gleichberechtigung und Geschwisterlichkeit gewonnen. Und das zeigen sie auch.

Zu ihren Füßen liegen deshalb – besiegt! – die Ikonen des Schreckens: Politiker, die in ihrem Streben nach Macht die Welt nicht zum Besseren verändern, sondern sie Stück für Stück auseinandernehmen. So findet sich hier Recep Tayyip Erdoğan an jenem Strick wieder, an dem er neben seinen Oppositionellen auch jeden anderen baumeln sehen will, der es wagt, sich gegen ihn zu stellen. Donald Trump und Marine Le Pen liegen andächtig vereint neben Bernd Höcke, dessen AfD-Armbinde nun keine Euphemisierung – keine Maskierung – seiner Aussagen mehr zulässt, da sie ihn als das entlarvt, was er ist: ein verkappter Neonazi. Und auch Wladimir Putin darf nicht fehlen. In seiner Brusttasche: die Flagge Tschetscheniens – ein Land, das er sich auf sehr viel subtilere Weise einverleibt hat als die Ost-Ukraine, und in dem nun Schwule, Lesben, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen um ihr Leben fürchten müssen. Jeden Tag.

Mit Die Freiheit führt (immer noch) das Volk will die TfD zeigen, dass es sehr wohl Menschen gibt, die an ein starkes, an ein vereintes Europa glauben. (Nicht umsonst findet sich auch das Farbschema von Gelb und Blau häufiger im Bildaufbau wieder). Ob mit der Fackel jener Statue, die in New Yorks Hafen allen ankommenden Flüchtlingen und Immigranten einst die Hoffnung auf ein neues Zuhause schenkte. Oder ob mit dem Megaphon, mit dem wir laut und deutlich zum Protest aufrufen. Immer und immer wieder. Bis alle es hören: Wir sind Marianne. Wir sind Europa. Und wir geben nicht auf.


Bild: Steven P. Carnarius
Text: Alexander Winter

Familie ist der Sieg der Gene über Sympathie

Familie ist der Sieg der Gene über Sympathie raunt es durch meinen Kopf, eine alte Weisheit eines noch älteren Freundes, Geschichtsprofessor und Menschenhasser, keiner weiß es also besser. Ich wappne mich in der einstündigen Zugfahrt gen Heimat. Dort freut man sich auf meinen seltenen Besuch, da köchelt das Essen zum Fest der Familienzusammenführung, da wählt man mit 33% die Nazi-Partei AfD.

Es sei kein Rassismus, wird in allen Medien versichert. Nirgends ein Nazi, keine NPD-Wahlerfolge bislang… Und dann kamen die verlotterten Araber übers Meer. Soldaten zogen aus der nahen Bundeswehrkaserne, und 700 dunkelhäutige Fremde zogen ein, beinah so viele wie es Dorfbewohner gibt, allesamt keine Rassisten, Gott sei Dank.

Aus der wohlgemeinten Übergangsstation wurde ein überbelegtes Flüchtlingsheim, wie immer kopflos in der Landeshauptstadt entschieden ohne Einbeziehung der Kommune. Hier wagt sich keine der bisherigen Reinigungskräfte mehr rein, deren Berichte pendeln zwischen „Die hausen wie die Schweine!“ und „Die leben wie die Maden im Speck!“, je nachdem, welche populistische Kerbe gerade mehr Aufmerksamkeit produziert. Mitnichten ist dies rassistisch, das kann hier wirklich keiner behaupten.

Bislang gab es nur drei „Ausländer“ im Ort, die keine Schwierigkeiten machten. Schwierigkeiten machen die Neuankömmlinge auch nicht – die von der AfD geschürte Angst vor Scharia und Minaretten ist also weiterhin unbegründet, dafür aber echt. Die Dorfschule wurde eben geschlossen, Bankautomaten gibt’s nicht mehr, der Handel zieht ab, junge Familien: Fehlanzeige. Dafür 700 neue Konsumenten im Dorf und mediale Aufmerksamkeit über tatkräftige Unterstützer, doch so denkt man hier nicht. Meine anämische Heimat ist bankrott, sie erliegt nach 850 Jahren Geschichte. Unbedacht wird man künftig an diesem sterbenden Tier vorbeifahren, ohne Halt machen zu müssen. Mit letztem Zucken werden noch schnell die Aasgeier mit 33 Prozent gewählt. Meine alten Nachbarn haben ihre Gründe, Rassismus ist selbstredend keiner davon.

So erzählt man mir bei Kaffee und Kuchen nach meiner Rückkehr: Dass mein Vater mit syrischen Jungs deren Möbel zusammenbastelt und hinterher am Stammtisch vorwurfsvoll angeschwiegen wird. Dass meine bislang politisch desinteressierte Schwester gespendete Elektrogeräte aus ihrem Auto hievte, und meine dicke Tante sich laut fragte: „Suchst einen neuen Mann?“ In diesem Teil Deutschlands brüsten sich gute Menschen nicht mit guten Taten, keiner mag aufgeschlitzte Autoreifen am Morgen, schon wieder. Ich selber werde als Ehrengast in Ruhe gelassen, ich wäre „schon immer so international eingestellt“ gewesen, da lohnt sich das Gezeter eh nicht, ich sei als freiwilliger Neuköllner eben unbelehrbar.

Ich ignoriere all das, wie man das eben so macht bei Menschen, mit denen man die Gene teilt. Ich kuschle mich an Oma und sage, dass ich Opa vermisse, der immer so traurig, aber nie ohne Stolz von seiner Flucht vor Krieg und Verwüstung erzählte. Ein totenbleicher Teenager vor 70 Jahren, kein Wort Deutsch, gottverlassen und runtergehungert, unser Stammvater.

Stumm wird in der Stube der Filterkaffee umgerührt, ungerührt.


Text: Buffalo Meus
Bild: Kyle Meck

Lasst uns Menschen sein

Ich bin als Mensch aufgewachsen.

„Mensch“ nenne ich es, da meine Eltern bei der Erziehung eines Sohnes statt einer Tochter sehr wahrscheinlich keine andere Methode angewandt hätten. Geschlechter-Dos und –Don’ts standen nämlich nicht auf dem Programm: Mein Zimmer war blau wie der Himmel an einem Sommertag, mein erster Strampler war gelb und erst im Kindergarten kam auf meinen ausdrücklichen Wunsch die pinken Rüschenkleidchen. Ich hatte Kuscheltiere und Bäume gern, und später wurde ich bei Gartenarbeiten genauso herangezogen wie zum Kekse backen, zum Klo putzen wie zum Winterreifen wechseln. Ich habe mit strohblonden Nachbarskindern gespielt und Freunde aus Äthiopien mit nach Hause gebracht.

So hatte ich lange den Eindruck, dass Gender und Herkunft keine Rolle spielten – weil es in meiner Welt keine Rolle spielte. Doch meine Welt war klein.

Denn ich bin cis und hetero, weiß, gehöre zur Mittelschicht und habe weder eine Behinderung, noch gehöre ich einer Religion an. Lange gab es nicht viele Angriffspunkte, um mein behütetes Weltbild zu zerkratzen: Ich war nie politisch aktiv, weil ich nie das Gefühl hatte, es sein zu müssen. In meiner Vorstellung, nach der ich zu handeln versuche, sind alle Mensch – und alle haben das Recht, nach ihrer Fasson Mensch zu sein.

Doch dieses Recht bröckelt. Jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick.

Dieses Recht bröckelt mit jedem Angriff auf Aleppo. Mit jedem Boot, das im Mittelmeer kentert. Mit jedem Kind, das unter freiem Himmel schläft, unter freiem Himmel hungert, unter freiem Himmel friert. Mit jedem Einreiseverbot. Mit der hilflosen Bürokratie, die Menschen nur verwahrt, anstatt sie aufzunehmen. Mit den Parteien, welche die Ängstlichen, die Wütenden, die Verwirrten für ihre Zwecke einspannt. Mit jedem Gesetz, das statt Gerechtigkeit und Gleichheit nur Fremdbestimmung und Leid nach sich zieht. Mit jedem Wort, das einer, der anders denkt, anders glaubt, anders lebt, anders liebt zu seiner Verteidigung anbringen muss. Mit jedem Rückschritt, jedem Rückzug, jedem Mauerbau, den wir machen, statt einander mit offenen Armen zu begegnen. Dieses Recht bröckelt mit einem Clown namens Trump, der längst alle Witznummern abgezogen zu haben scheint und die Manege trotzdem nicht verlassen wird. .

Das Recht bröckelt mit meiner Ratlosigkeit, was dagegen zu tun ist.

Tatsächlich bin ich mir nur bei einer Sache sicher: Schweigen, während Unrecht geschieht, ist falsch.

Werden Demonstrationen die Welt verändern? Konnten hunderttausende marschierende Frauen verhindern, dass ein Mann sich in ihre Körper, in ihre Leben einmischt? Können ehrenamtliche Bemühungen das Leben zwischen Laken und Hochbetten menschlich machen? Wird ein Tanz auf dem CSD dafür sorgen, dass Liebe Liebe sein darf? Wird dieser kleine Beitrag einen Funken Menschsein zünden können?

Sicher nicht. Sicher nicht gleich, sicher nicht sofort. Doch wer marschiert, wer hilft, wer tanzt, wer schreibt, wer spricht, wer empfängt, wer offenen Geistes ist, seinen Weg für andere öffnet und Hass nicht mit Hass beantwortet, der setzt ein Zeichen: Ich bin hier. Wir, die Menschen, sind hier.

Alles ist ein Anfang. Alles.


Text: Sabine Wirsching
Bild: Carson Arias